Barry Le Va
„Double Join“

Herbst 2007

Gegen Ende des Jahres 1966 stellte, faltete und presste Barry Le Va zehn Filzstücke in zehn flache Holzkästen von je 28 x 35,5 cm Größe. Der Filz in den Kästen, verformbar, tastbar, gewöhnlich, kein übliches Kunstmaterial, sieht aus wie dreidimensionale Darstellungen einer Trompe-l'oeil-Draperie, womit die neue Verpflichtung der Skulptur gegenüber der Malerei eingeläutet und anerkennt wird. Und die Objekte mit dem Titel „Felt: Placed, Folded, and Compressed“ leiten zu einer ungewöhnlichen Gruppe von Werken über, die – in alle Himmelsrichtungen – über den Boden verteilt sind und weitgehend aus Filz bestehen, oft kombiniert mit Kugellagerkugeln, Holz, Glasscheiben und anderem. Diese „distributions“ oder „scatter pieces“ (Streuungen) wirken wie riesige zertrümmerte Gemälde, die von der Wand auf den Boden gefallen sind, und sie sind vielleicht die optisch / intellektuell interessantesten Werke, die in der ersten Phase der später oft sogenannten Process Art entstanden. Zu Le Vas Kollegen, die in eine ähnliche Richtung gingen, gehörten unter anderen Eva Hesse, Bruce Nauman, Richard Serra und Keith Sonnier. Auf verschiedene Art und Weise arbeiteten sie alle mit verformbaren Materialien und versetzten diese Materialien mithilfe einfacher Prozesse wie Werfen, Schütten, Schneiden usw. oft in ein Wechselgespräch mit der Schwerkraft. Ein Jahr, nachdem Le Va sich dem Filz zugewandt hatte, begann Robert Morris mit einzelnen dicken, großen Stücken Filz zu arbeiten, von denen er meist eines von der Wand herabhängen ließ, um das Wirken der Schwerkraft kenntlich zu machen wie ein sehr steifes Tuch. Und der weise Mythenerzähler Joseph Beuys machte natürlich häufig von Filz Gebrauch; seine Ver-wendung dieses Materials war jedoch mehr der Metapher als der Schwerkraft verpflichtet.

Unter den Werken aus Filz, die Le Va zwischen 1966 und 1968 schuf, ist Double Join wohl das reduzierteste, offenste und vielleicht transparenteste in seiner Offenlegung des Schöpfungsprozesses. Ein scheinbar nahtloser und endloser bandartiger Filzstreifen und eine ähnlich übergangslose, endlose Länge einer viel dünneren Schnur schlängeln sich um und über eine etwa 2,75 mal 6 Meter große Fläche auf dem Fußboden. Nach allem, was wir sehen, scheint der Künstler mehr oder weniger regelmäßig um die rechteckige Fläche herumgegangen zu sein, hat abwechselnd Filzband und Schnur abgewickelt und jedes in einen Dialog mit der Schwerkraft eintreten lassen, wo-bei ihr jeweiliges Gewicht zu einem uneinheitlichen Absinken führte und der Filz, weil er etwas schwerer ist, in etwas geraderen Linien als die Schnur nach unten sank, und der Künstler scheint ab und zu ohne ersichtlichen Grund, außer dass er es gelegentlich tat, weil er möglicherweise die Neigung dazu verspürte, stehen geblieben zu sein und eingegriffen zu haben, um Abschnitte des Filzes und der Schnur oder von Filz und Filz oder Schnur und Schnur ineinander zu verflechten und / oder miteinander zu verbinden, sodass er, als ihm der Filz und die Schnur ausgingen oder aber er keine Notwendigkeit mehr sah weiterzumachen, unserem Blick eine Art unstet sich bewegenden Raster hinterließ, der aus vier sich schlängelnden, unvollständigen rechteckigen Komponenten besteht, die das rechteckige Ebenmaß der Fläche, die den Raster enthält, neu bestimmen; wobei Le Va davon ausging, dass das Werk immer auf einer rechteckigen Fläche installiert würde, und sich darauf verließ, dass der jeweilige Inhaber des Werkes es auch täte, was dazu führen würde, dass das Werk jedes Mal, wenn es erneut installiert würde, etwas anders aussähe. Und er gab ihm den Titel „Double Join“, und es ist so stetig unstet, jedoch wesentlich eleganter als dieser lange Satz, der es beschreibt.

Unbestimmt, durch Improvisation beeinflusst, sichtlich in der Zeit sich ereignend und deutlich die Rückstände eines Tuns enthaltend, ist diese Skulptur so etwas wie eine Zeitlupenmaterialisation – und extreme Aufhebung – der Malverfahren einiger Maler des Abstrakten Expressionismus, insbesondere Jackson Pollocks. Zudem erstreckt sie sich in einen viszeralen Architekturzusammenhang hinein, den der Betrachter kinästhetisch mit Duchamps Stoppages in Verbindung setzen kann, die in verschiedenen Werken von 1914 enthalten sind, in denen ein meterlanger Faden aus einer Höhe von einem Meter auf den Boden fallen gelassen, sein welliges Profil nachgezeichnet und bald auf Leinwand, bald auf ausgeschnittene Holzstücke übertragen wurde. Doch in all den Jahren, die ich Le Va und sein Werk kenne, ist der Name Duchamp nur selten gefallen. Double Join hängt inhaltlich und zeitlich eher mit einem 16-mm-Schwarz-Weiß-Film von Le Vas Freund Bruce Nauman zusammen, in dem man sieht, wie Nauman ungefähr sechs Minuten lang den Titel seines Films „Walking in an Exaggerated Manner around the Perimeter of a Square“ („Auf übertriebene Art um den Rand eines Vierecks herumgehen“, 1968) darstellt. Die Kunst ist ein ritualisiertes Vermessen von Raum und / oder Zeit – manchmal ist die Ritualisierung die der Langeweile (die aber, in den richtigen Händen, nicht langweilig ist).

Der verzerrte Raster von Double Join ahmt die Art Raster nach und stellt sie in Frage, die so regelmäßig die sogenannte minimalistische Kunst von Leuten wie Sol LeWitt und Carl Andre beherrscht und reglementiert, welche den Werken der Process-Art-Künstler unmittelbar vorausging und sich parallel dazu fortsetzte. Der minimalistische Raster und die geometrische Klarheit werden durch Improvisation und die Verwendung verformbarer Materialien anerkannt und zugleich verzerrt. Der Raum wird nicht durch Geometrie vermessen, sondern durch die Launen der Schwerkraft und durch menschliche Verstöße, absichtlich und unabsichtlich. Und Double Join mag sich sehr wohl auf die Partnerschaft von Betrachter und Kunstwerk beziehen, wenn der Betrachter die Einladung des Künstlers annimmt, die Schritte seines Schaffensprozesses nachzuverfolgen und sich ihm in der neutralen Objektivierung menschlicher Fehlbarkeit anzuschließen.                                

Klaus Kertess

(Übersetzung Benjamin Schwarz)