Sol Lewitt

Winter 2007/2008

Als Sol LeWitt am Ostersonntag 2007 starb, hinterließ er ein weit ausgreifendes, vielgestaltiges Werk. Während seiner gesamten künstlerischen Tätigkeit,
die Mitte der fünfziger Jahre begonnen hatte und eigentlich erst in den Wochen vor seinem Tod endete, arbeitete er mit großer Produktivität, die ihr Pendant in einer präzisen Systematik hatte. LeWitt zeichnete und fotografierte, er entwarf Skulpturen und solche Werke, die als ‚Wall Drawing' von Assistenten direkt auf Wänden in Museen, Galerien und Privaträumen realisiert wurden. Im Lauf von fünf Jahrzehnten entstand so eine fast unübersehbare Zahl von Werken, die jedoch nicht unübersichtlich wirken, weil sie alle sich auf einen Kernbestand von künstlerischen Überzeugungen beziehen.

Die grundsätzlichste dieser Prämissen, auf die sich die weiteren wiederum beziehen, ist jene vom Primat der Idee in allem künstlerischen Handeln, eine
Überzeugung, die LeWitt durch ihre prägnante Formulierung schon früh zum exponierten Vertreter der Konzeptkunst hat werden lassen. 1967 schrieb er in seinen Notizen zur Konzeptkunst (Paragraphs on Conceptual Art): „In der Konzeptkunst ist die Idee oder das Konzept der wichtigste Aspekt der Arbeit. Wenn ein Künstler eine konzeptuelle Kunstform verwendet, heißt das, dass die gesamte Planung mit allen Entscheidungen im Voraus festgelegt wird und die Ausführung nur eine Formsache ist. Die Idee wird zum Apparat, der die Kunst schafft.“ 1
Angesichts dieser Disposition, der die konzeptionelle Phase des Arbeitsprozesses wichtiger ist als die sinnlich-greifbare Ausführung des Werks, ist es nicht überraschend, dass bei LeWitt den Arbeiten auf Papier eine besondere Bedeutung zukommt. Papierbogen und Stift sind immer greifbar, um Ideen eine Form zu geben. Überdies entspricht der bescheidene Charakter des Papiers, auf dem mit Blei oder wenigen Farben gezeichnet wird, in besonderer Weise LeWitts künstlerischem Ethos.

Dabei gewinnen die Werke auf Papier eine doppelte Bedeutung. Sie sind einmal das Behältnis, in dem die Idee eines Werks zum ersten Mal festgehalten wird: als gezeichnete Skizze für eine Skulptur oder ein ‚Wall Drawing', die häufig durch verbal formulierte Hinweise auf die zugrunde liegende Idee oder zur konkreten Ausführung ergänzt werden. Genauso können die Arbeiten auf Papier aber den Status eines eigenständigen Werks annehmen, das in sich geschlossen ist und der Übersetzung in ein anderes Medium nicht mehr bedarf.

Gerade solchen Werken begegnen wir in der hier vorgestellten Gruppe. Jedes von ihnen vermag uns durch seine Verbindung von sinnlicher Unmittelbarkeit und gedanklicher Komplexität direkt anzusprechen. Zugleich geben sie alle Hinweise auf jene Grundprämissen, denen sich LeWitts Werk insgesamt verdankt. Bevor wir uns einigen dieser Blätter direkt zuwenden, sollen deshalb die historischen Koordinaten skizziert werden, die LeWitts Vorstellung des künstlerischen Handelns bestimmen. Dieser Horizont blieb während seiner langen Laufbahn gültig.

Die auffällige Betonung der Rationalität des künstlerischen Prozesses, dass nämlich die Idee des Werks alle notwendigen Hinweise zu seiner Realisierung enthält, rückt den Künstler mit seiner Emotionalität und seinen persönlichen Vorlieben deutlich in den Hintergrund. Für LeWitt und andere Künstler seiner Generation, wie Dan Flavin, Donald Judd oder Robert Ryman, ging es um 1960 um Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks jenseits der Bildvorstellung des Abstrakten Expressionismus und dessen Betonung eines individuellen und spontanen Ausdrucks. Die Vorstellung des Künstlers als eines einsamen Matadors, der die Quellen des Werks auf unvorhersehbaren Wegen in den Tiefen seiner Psyche freilegt, hatte für sie jede Glaubwürdigkeit verloren. Zu deutlich sahen sie, dass die ursprüngliche Spontaneität und das Pathos existentieller Selbstbefragung in der Malerei der Abstrakten Expressionisten inzwischen zu einem routinierten, eher austauschbaren Stil gefroren waren.

LeWitt, dessen erste künstlerische Versuche als Maler um 1957 noch Anklänge an den Duktus des Abstrakten Expressionismus erkennen ließen, nannte diese Orientierungsphase einmal einen Tiefpunkt seiner künstlerischen Laufbahn. Er suchte fortan einen Weg, der frei bleiben sollte von den Übertreibungen des Persönlichen. Dem entgegen stellt er die Integrität des Konzepts, der reinen Idee. Durch seine logische Plausibilität ist das Konzept befreit aus der Sphäre des Subjektiven. Eine eigene Objektivität gewinnt es auch, weil es grundsätzlich unabhängig ist von einer konkreten sinnlichen Realisierung. Auch ohne sie, als bloße Beschreibung der Idee, ist es vollständig.

Nach allem Gesagten könnte es scheinen, als sei LeWitts Kunst eindimensional, weil sie in der Illustration eines streng logischen Konzepts aufgehe. Doch ist dieses Konzept, als eigentlicher Kern aller Werke, vielschichtig. Neben seiner Rationalität wird es genauso durch die Elemente der Intuition und des Zufalls bestimmt: logische Stringenz schließt Widersprüche und Paradoxien nicht aus. Der Künstler selbst sah sich 1969, in einem zweiten Grundlagentext, Sätze zur konzeptuellen Kunst (Sentences on Conceptual Art), zu dieser Klarstellung veranlasst, um das Verständnis seiner Arbeit vor Vereinfachungen zu schützen. „Konzeptuelle Künstler sind eher Mystiker als Rationalisten. Sie gelangen sprunghaft zu Lösungen, die der Logik verschlossen sind.“ Tatsächlich geht es um eine Synthese zweier scheinbar unvereinbarer Aspekte. Denn, so heißt es wenige Sätze später: „Irrationale Gedanken sollten streng und logisch verfolgt werden.“

LeWitts Konzepte halten deshalb Überraschungen bereit. Zwar stützen sich ihre sprachlichen Beschreibungen der Idee und ihre Anweisungen zu deren Ausführung auf einfache Sätze. Auch sind die Elemente, durch die sie eine sinnliche Form annehmen, durch größtmögliche Überschaubarkeit gekennzeichnet. Gerade und geschlängelte Linien, die sich als Horizontale, Vertikale oder Diagonale entwickeln, gehören genauso dazu wie Quadrat und Kubus. Der Künstler begreift Quadrat und Kubus als Grundformen, weil sie vielfach bekannt und als visuelle Formen selbst eigentlich uninteressant sind. So lenken sie nicht ab von dem geistigen Horizont, der hinter ihnen steht. Alle kreative Energie sollte in die Formulierung der Ideen gehen.

Und doch schlägt diese Einfachheit und Stringenz immer wieder um: in Komplexität und Unübersichtlichkeit, auch in eine spröde Schönheit. Aus
der scheinbaren Bescheidenheit seines Anspruchs kann bei LeWitt eine unerwartete sinnliche Anmut entstehen.

Die Zeichnung eines offenen Kubus zeigt ein unvollendetes Gerüst, das den Betrachter einlädt, den Würfel zu vervollständigen, ohne ihm dafür aber eine konkrete Ausführungsvorgabe zu machen. Das Werk entlässt uns in ein offenes Feld unabsehbarer Möglichkeiten. Auch die Skulptur des geschlossenen Kubus bleibt transparent, weil nur seine Kanten tatsächlich als Material ausgeführt sind. Von welcher Seite, aus welcher Perspektive wir diese Gitterstruktur auch in den Blick nehmen, sie verweigert sich der Eindeutigkeit. Es bieten sich uns immer neue
Überschneidungen und andere Fluchtlinien und Korrespondenzen. Und auch die nebeneinander aufgereihten fünf massiven Kuben mit identischem Volumen haben Teil an dieser Strategie der Vielschichtigkeit und der Täuschung. Der erste Eindruck ihrer Gleichförmigkeit zerbricht bald, wenn wir feststellen, dass sie auch Hülle für weitere Kuben sind. Während der erste Kubus noch leer bleibt, erhöht sich bei den folgenden Kuben die Anzahl der darunter versteckten Würfel in gleichmäßigen Schritten. Das scheinbar Eindeutige birgt auch die Variation, lediglich angedeutet durch Bleistiftlinien auf dem Sockel der Skulptur.

Die Zeichnung mit dem Titel „Red lines from the midpoint of the left side and the lower right corner blue lines from the midpoint of the right side and the upper left corner“ ist beispielhaft für jene Tendenz zum Absurden, die sich auftun kann, wenn einlinige, unmissverständliche Aussagen zur Ausführung eines Werks tatsächlich konsequent ausgeführt werden. Es werden Linien in zwei Farben, blau und rot, gezogen. Zusätzlich wird jede der Linien mit den Koordinaten ihrer Länge und Richtung schriftlich bezeichnet. Die gezeichnete Linie bildet dabei die Basis der Schrift. Sind aber diese Ausführungsanweisungen einmal durchdekliniert, so hat sich die sprachliche Einsilbigkeit des Konzepts in ein visuell unabsehbares Muster von Linien und Buchstaben verwandelt, die sich immer wieder gegenseitig kreuzen und sich dabei tendenziell der Unlesbarkeit nähern.

Vielleicht macht jenes Blatt mit sechs aus Tuschelinien entstandenen Quadraten LeWitts besondere Vorstellung einer sinnlich bestimmten Schönheit, die sich in seinen Werken immer wieder Bahn bricht, am besten nachvollziehbar. Alle Quadrate entstehen aus einem Geflecht von eng beieinander liegenden Linien in jeweils zwei Richtungen. Diagonale, Vertikale und Horizontale begegnen sich in unterschiedlichen Konstellationen. Aus diesen kargen Markierungen, die ein ganz abstraktes Regelwerk deklinieren, entstehen nun, so empfindet es unser Auge, sechs Felder unterschiedlich schimmernden Lichts. Diese Variation verdankt sich den wechselnden Richtungsverläufen und zugleich der Individualität jeder der Linien, von denen keine mit demselben Druck der Hand aufgetragen worden ist. LeWitts Konzept inkorporiert solche individuellen Schwankungen innerhalb seines Systems und öffnet es damit auf jene Unabsehbarkeit hin, die all unseren Vorhaben notwendig eignet. Diese Tuschelinien meinen zunächst nichts als sich selbst, sie sind Darstellung eines rational gesteuerten Musters. Zugleich geben sie aber den Blick frei in ein Reich der Schönheit, in dem die klaren Formen zerfallen in einem Spiel von Licht und Schatten. Im Sagbaren macht sich bei LeWitt zugleich das Unsagbare deutlich.                   

Heinz Liesbrock

1 Sol LeWitt, "Notizen zur Konzeptkunst", zitiert nach: Ders., Walldrawing 1176. Seven Basic Colors and All Their Combinations in a Square within a Square.
For Josef Albers, Katalog des Josef Albers Museums Bottrop, Düsseldorf: Richter Verlag 2006, S. 94.