Mel Bochner
Vernissage 25.06.2019
Untitled (study for sculpture: 6 part horizontal progression), Tusche auf Millimeterpapier, 21,5 x 27,9 cm, 1966
Misunderstandings: A Theory of Photography (Negative), neun photomechanische Prints, auf Pappe aufgezogen, in Künstlerrahmen, insgesamt 43,8 x 67 cm, jeder einzelne Print 12,7 x 20,3 cm, 1967 – 69
Wittgenstein Illustration, Bleistift, Buntstift Filzstift und Tusche auf Papier, 76 x 56,7 cm, 1971
2 Number Circles Interlocking Zero: Mirror Rotation, Farbstift auf zwei Blättern Strathmore Papier, 27,62 x 35,24 cm, 1973
2 Number Circles Interlocking Zero: Mirror Rotation/ Alternate Rotation, Farbstift auf zwei Blättern Strathmore Papier, 27,62 x 35,24 cm, 1973
Measurement Drawing: 8 inch vertical, Tintenroller auf kariertem Papier, 27,3 x 21,9 cm, 1970
Project for Corner Piece: 36“ Series (12+24), Packpapier, Tacker, schwarzes Tape, 61 x 31 x 99 cm, 1969
Untitled (Prussian Blue), Bleistift und Gouache auf Aquarellpapier, 25,8 x 35,9 cm, 28 Nov 1977
Untitled (Red Shift), Bleistift und Gouache auf Aquarellpapier, 26 x 36 cm, 15 + 16 Jan 1979
Cubes, Aquatintaradierung auf Papier, 18/32, 83 x 120 cm (gelb), 1989
Cubes, Aquatintaradierung auf Papier, 28/32, 83 x 120 cm (schwarz), 1989
Cubes, Aquatintaradierung auf Papier, 24/32, 83 x 120 cm (orange), 1989
Mel Bochner
VERNISSAGE
Dienstag 25. Juni 2019
Geöffnet Mittwochs 16:30 – 18:30 Uhr
Mel Bochner - Sprache und Raum
Ein entscheidender Gesichtspunkt der Arbeit von Mel Bochner ist die Untersuchung der Beziehungen natürlicher und kultureller Gegebenheiten, Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge. Seine Werkentwicklung ist von starken formalen Zäsuren geprägt, deren innere Logik sich dennoch anschaulich nachvollziehen lassen.
Bochner gehört zu einer Künstlergeneration, die zu Beginn der 1960er Jahre das Primat der Malerei in der Kunst radikal aufgebrochen hat. Er schaffte dies unter anderem durch die Einführung von Sprache im wörtlichen wie im übertragenen Wortsinn als bildnerische Praxis. In seiner jüngeren Werkentwicklung beschäftigt sich Bochner zunehmend mit einer Revision des einst verschmähten Mediums, dessen Tod er Mitte der 1960er Jahre als ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ bezeichnet hatte, wobei er neue Möglichkeiten der Malerei aus den Erkenntnisprozessen der eignen konzeptuellen Bildsprache ableitet.
Letztlich blieb Bochners künstlerisches Selbstverständnis und Denken das eines Malers, der das Medium an seine Grenzen gekommen sah, an denen er für sich keine Möglichkeiten eines innovativen Fortschritts mehr erkennen konnte.
Aufgewachsen in Pittsburgh in einem traditionellen jüdischen Elternhaus, erfuhr Bochner eine frühe Prägung durch seinen Vater, der Schildermaler (sign painter) war. Seine Beziehung zur Malerei erfolgte also über ihre angewandte Funktion der Gestaltung von bildlichen und sprachlichen Verweisen, die in eindeutiger Weise bestimmte Einrichtungen, Anlagen, Waren, Dienstleistungen, etc. bezeichnen oder Regularien, Orientierungen etc. erklären sollen.
Bochners bildnerisches Vokabular, das er seit Mitte der 1960er Jahre entwickelte, stand unter dem Einfluss von Minimal und Concept Art, deren formaler Urheber als Künstler und kritischer Analytiker für Arts Magazine er gleichzeitig war. In beiden Bewegungen fand Bochner Reibungsflächen, an denen er seinen eigenen künstlerischen Standort zu entwickeln vermochte.
Die damals aktuelle Debatte, die nicht nur in New York die Kunst beherrschte, galt vorzugsweise der Auseinandersetzung um das Objekt und seiner Erfahrung als Kunstwerk. Die Intention Bochners und Anderer war es jedoch, diese einseitige Konzentration auf das Kunstwerk als Objekt im Raum aufzuheben zugunsten eines Werk-Begriffs, der auf der Analyse und Darstellung von wie immer zu veranschaulichenden Beziehungen bzw. Relationen beruht, aber an einer empirischen Präsenz des Werkes festhielt. Gleichzeitig wurde die Serialität zu einem wesentlichen Strukturprinzip seines künstlerischen Denkens.
Im Rahmen seiner frühen Werkentwicklung zwischen 1966 und 1973 konzentrierte sich seine Arbeit auf die Frage, wie sich unser durch Sprache zum Ausdruck gebrachtes Denken von tatsächlichen Erfahrungen unterscheidet. In diesem Sinne verweist Bochners Arbeit auf die bekannte Unterscheidung von Theorie und Praxis. Denn jeder Teilhaber an einer sozialen Gemeinschaft (Tönnies) oder eines sozialen Systems (Luhmann) muss auf seine Weise lernen, dass zwischen erworbenem Wissen und seiner Anwendung im wirklichen Leben oft ein beträchtlicher Unterschied besteht. Als Vermittler zwischen beiden Bereichen dienen uns verbale, visuelle und symbolische Konventionen, Codes und Grammatiken, die wir routinemäßig anwenden, um die Außenwelt zu erfassen. Der Reflexion ihrer Funktionsmechanismen und Bedeutungen gilt Bochners Hauptaugenmerk. Demgemäß beinhalten die meisten seiner Installationen, Fotografien und Zeichnungen aus dieser Zeit eine Gegenüberstellung von Formen, Dingen oder Symbolen mit den theoretischen Ideen, Strukturen oder Sprachen, die diese erst erschaffen. Die für ihn wesentlichen Fragestellungen wie auch die Materialien, die er in seinen Arbeiten verwendet, sind jedermann als landläufige kulturelle Konventionen vertraut.
Sprache und Zahlen dienten Bochner als rationale Strukturen/Systeme zur Beschreibung des unbeständigen/launischen Wesens jeder Objektivität vorgebenden/beanspruchenden verbalen Äußerung oder gegenständlichen Erscheinungsform. Dabei fordert er unseren unbewussten Gebrauch der Sprache als Werkzeug, das Bedeutung vermittelt, indem sie die äußere Wirklichkeit beschreibt, heraus, um den Zwischenbereich, der unsere Sprache und unsere Erfahrung der Welt voneinander trennt, einer genauen Prüfung zu unterziehen.
Im Zuge dessen bilden sich zu dieser Zeit zwei wesentliche Merkmale seiner Kunst heraus: die radikale Einfachheit der formalen Mittel und die Klarheit der bildnerischen Prozesse. Sie beschreiben die Erkenntnis, dass Bedeutung nicht an eine äußere Erscheinung gebunden ist, sondern aus der Beziehung von materiellen und gedanklichen Elementen sowie der jeweiligen Perspektive, aus der diese Beziehungen wahrgenommen werden, erwächst. Das heißt, es geht Bochner um eine Veranschaulichung der Bedingungen des Machens und der Wahrnehmung, die ein Kunstwerk zu dem werden lässt, was es ist.
Bochners erste Einzelausstellung fand 1966 in der Galerie der School of Visual Arts in New York statt, wo er als Assistenzprofessor für Kunstgeschichte tätig war. In der Ausstellung präsentierte er vier identische Dreiringordner auf Podesten. Jeder enthielt 100 Exemplare verschiedener Arbeitszeichnungen und Skizzen. Einige dieser Werke wurden von Künstlerfreunden wie Donald Judd, Dan Flavin, Sol LeWitt, Eva Hesse und Robert Smithson sowie von mehreren Wissenschaftlern geschaffen, die Bochner gebeten hatte, Beiträge zu einer Ausstellung über „Arbeitsproben“ zu leisten. Da den Veranstaltern der Ausstellung die Mittel für den Rahmen fehlten, fertigte Bochner Fotokopien an und ordnete sie alphabetisch in den Ordnern an. Mit dem Titel „Arbeitszeichnungen und andere sichtbare Dinge auf Papier, die nicht unbedingt als Kunst angesehen werden müssen“ (1966) lud Bochner die Besucher der Ausstellung ein, in den Werken zu blättern und zu aktiven Lesern zu werden, anstatt nur passive Beobachter zu sein. Gleichzeitig definierte er den Begriff der Autorenschaft neu: Obwohl er als Ausstellungskurator fungierte, verwandelte er die Show auch in sein eigenes Kunstwerk. Die Künstler, denen er die Originale vor der Eröffnung zurückgegeben hatte, begrüßten diese Idee. Nur Donald Judd war über Bochners Aneignung irritiert. Die Ausstellung gilt als erste Ausstellung der Konzeptkunst und war wegweisend für die Entwicklung der Kunstform.
Bochners besonderes Interesse galt zu dieser Zeit Zahlenreihen und -folgen u.a. arithmetischen Reihen wie dem Cantorschen Paradox als Demonstration einer Theorie unendlicher Mengen sowie der Fibonacci-Folge, in der die Quotienten zweier aufeinanderfolgender Zahlen sich zunehmend dem Goldenen Schnitt annähern und die in der Natur ein Muster für Wachstumsvorgänge aufzeigt.
Diese Beschäftigung mit tabellarischen Darstellungen numerischer Verhältnisse stellt Bochner in Zeichnungen dar, die häufig als Entwürfe für Skulpturen zu verstehen sind. Ein hierfür typisches Blatt ist Untitled (study for sculpture: 6 part horizontal progression) von 1966, in dem der Aufbau einer dreidimensionalen Struktur rechnerisch bestimmt und aus zwei Perspektiven frontaler Ansicht und Aufsicht dargestellt wird. Die verschiedenen Ansichtigkeiten werden aus den unterschiedlichen Rechenoperationen hergeleitet, aufgrund deren die anschauliche Symmetrie der Ansicht und die numerische Progression der Aufsicht voneinander abweichen.
Solche zeichnerischen Diagramme oder diagrammatische Zeichnungen setzte Bochner zuweilen in kleinen Papp-Modellen um, eine Ausführung als Skulptur in vergrößertem Maßstab war nicht seine Absicht. Seiner konzeptionellen Logik folgend begriff er die physische Ausführung als untergeordnete Praxis, während das Zeichnen eine Form der Herstellung war, als sichtbar gemachtes Denken, während Diagramme als Ersatz für das Zeichnen dienen können.
Zur gleichen Zeit entdeckt Bochner die Fotografie als formales Mittel und Untersuchungsgegenstand, deren problematische Beziehung von Zeit und Realität ihn interessiert. Es führte ihn zur Umsetzung des Konzepts von 36 Photographs and 12 Diagrams (1966), das auf einfachen Zahlen-Diagrammen beruht. Zeichnungen auf kariertem Rechenpapier sind Vorgabe bzw. Protokoll für zwölf Konfigurationen. Diese zahlenmäßig festgelegten Grundrisse auf der Basis von jeweils sieben mal sieben Feldern übertrug Bochner in Aufbauten aus zwei Zoll großen Holzwürfeln. Die Zahlen der Diagramme geben an, wie viele von maximal vier Würfeln in welcher Position übereinandergestapelt werden.
Als er die Einladung erhält, die Arbeit in der Ausstellung ‚Scale Models and Drawings’ der Dwan Gallery in New York auszustellen, sieht sich Bochner mit dem Problem konfrontiert, eine der ausgeführten Varianten auswählen zu müssen. Seine Weigerung, diese Entscheidung zu treffen, weil sie das Wesen des Werks nicht hinreichend repräsentieren würde, bringt ihn dazu, zwölf Aufbauten aus jeweils drei Blickwinkeln zu fotografieren, die in einem Tableau aus Einzelbildern zusammen mit den Diagrammen gezeigt werden.
Das Projekt wies Bochner zudem den Einstieg in eine sehr produktive Phase einer experimentellen Auseinandersetzung mit der Fotografie, die ihn zu Misunderstandings: A Theory of Photography (Negative) (1967-1969) führte – einer sprachlichen Hochstapelei in Form von neun Aussagen zur Begriffsbestimmung bzw. Definition der Fotografie. Unter den Zitaten, die überragenden Größen ihres jeweiligen Feldes wie Merleau-Ponty, Proust, Wittgenstein aber auch der Encyclopedia Britannica zugeschrieben werden, befinden sich jedoch mindestens drei erfundene, die den Glauben an die illusionistische Täuschungen sowohl der Fotografie als auch der Sprache unterwandern.
Die Zeichnungen Counting Alternatives Series (The Wittgenstein Illustrations) von 1971 entsprang der Auseinandersetzung mit Ludwig Wittgensteins letztem Werk ‚Über Gewissheit’, in dem er sein Konzept des Verhältnisses von Wahrheit und Zweifel entworfen hat. Den Zeichnungen unterliegt das gleichförmige Schema eines Quadrats, in dem die Diagonalen sowie die horizontalen und vertikalen Mittelachsen den Mittelpunkt fixieren. Diese Linien beschreibt Bochner mit Zahlenreihen, die unterschiedliche Wege der Matrix verfolgen. So zeigt “Y“ Branch, First Reading die Folge der natürlichen Zahlen, die auf der vertikalen Mittelachse bis zum Mittelpunkt des Quadrats läuft. Dort teilt sich die Reihe und folgt den beiden Diagonalen bis in die unteren Ecken. Dieser an sich einfache Prozess weist zwei besondere Merkmale auf, zum einen illustriert Bochner die Unterscheidung der positiven ganzen Zahlen von den nicht-negativen ganzen Zahlen, die je nach Definition die Menge der natürlichen Zahlen bilden, indem er die ‚0’ außerhalb der Matrix platziert. Zum anderen gelangt er bei der handschriftlichen Eintragung der Zahlen am Ende zu unterschiedlichen Endstellen seiner Zählung.
Diese sich aus dem Prozess ergebende Diskontinuität von Konzept und Anschauung bezeichnet ein Phänomen, das Bochner im Zuge des Studiums von Wittgensteins Schrift ‚Über Gewissheit’, die die zentrale Fragen nach dem Verhältnis von Wahrheit und Zweifel reflektiert, beeindruckt und beeinflusst hat.
„Die Matrix, die meinen Bildern zugrunde liegt, leitet sich aus dem klassischen Modell des Quadrats ab, geviertelt und gekreuzt, das von Leonardo über Dürer bis Descartes die Struktur der Vernunft symbolisierte. ... Die Geometrie der Konfigurationen schafft die Syntax. Zähleinträge ist der Fluss gedanklicher Energie. Entscheidungen (daher Zweifel) müssen an jedem Schnittpunkt getroffen werden. Die handschriftlichen (nicht gezeichneten) Zahlen, die Änderung ihrer Geschwindigkeit und Unvollkommenheit repräsentieren die Spontaneität des Denkens.“ / „The matrix that underlies my images is derived from the Classical model oft he square, quartered and crossed, which from Leonardo to Dürer to Descartes symobolized the structure of reason ... The geometry of the configurations creates the syntax. Counting records (is) the flow of mental energy. Decisions (hence doubt) must be made at every intersection. The handwritten (not drawn) numbers, their change of pace and imperfection, represent the spontaneity of thought.“ (Mel Bochner, Statement. In: Ludwig Wittgenstein, On Certainty/Über Gewissheit, San Francisco: Arion Press, 1991, keine Zeitenzahl).
Bochners Auseinandersetzung mit der Idee der Diskontinuität von Konzept/Sprache und Erfahrung kam bereits in den falschen Behauptungen der Misunderstandings: A Theory of Photography (Negative) zum tragen. Die beiden Zeichnungen 2 Number Circles, Interlocking Zero: Mirror Rotation, 1973 und 2 Number Circles Interlocking Zero: Mirror Rotation/Alternate Orientation, 1972 behandeln ebenfalls die Nichtübereinstimmung von Prozessen, die demselben Konzept folgen, und dementsprechend zu anschaulichen Abweichungen führen. Beide Zeichnungen variieren den gleichen Plan, auf zwei bei ‚0’ „ineinander greifenden“ Kreise werden im (rot) bzw. gegen (blau) den Uhrzeigersinn die Folge der natürlichen Zahlen geschrieben. Sie unterscheiden sich zudem darin, dass die Zahlenfolgen im ersten Blatt untereinander, und im zweiten Blatt die blauen Zahlen nebeneinander angeordnet sind. Auch hier ergibt sich bei der Vollendung des Kreises eine Abweichung in der Zählung, die Bochners Statement, unter der Voraussetzung der ‚freihändigen’ Ausführung des Zeichen- bzw. Schreibprozesses, bestätigt.
Das Jahr 1968 bildete für Bochner Zeitspanne der Reflexion und des Experimentierens, welche die Idee einer Durchdringung von Sprache und Raum weiterverfolgte. Sie erfuhr Ende der 60er Jahre eine entscheidende Ausformung in den (Ver)Messungen [Measurements]. Bochner (ver)maß zunächst Gegenstände in ihrer Beziehung zum Raum und hielt die Ergebnisse auf den Wänden und dem Boden seiner unmittelbaren Umgebung fest. Es handelte sich einerseits um alltägliche Dinge wie eine Leiter. Andererseits beschäftigten ihn aber auch Maße an sich, vor allem amerikanische Standardmaße, die er als solche einfach (auf)zeichnete, wie 8“ (1979) auf einem Blatt Rechenpapier.
36“ Standards von 1969 zeigt dagegen beispielhaft Bochners Praxis, mit neutralen Bögen von braunen Packpapier die Maßeinheit anschaulich zu vermitteln und dabei gleichzeitig zu relativieren, indem er das Höhenmaß des Papierbogens um die Raumecke lenkt. Die Installation lässt indes auch Variationen zu, die das Verhältnis von Maß zu Fläche zu und Raum anders interpretieren, z.b. indem sie auf die Mitte der Wand bezogen werden.
Insofern das Konzept der Ortsbezogenheit, das den Raum als einen Teil der Arbeit voraussetzt, bereits in seinen frühen Arbeiten erscheint, war es eine folgerichtige Entwicklung, zur (Ver)Messung von Räumen überzugehen. Dementsprechend vermaß Bochner 1969 in Measurement: Room – seiner ersten Galerieeinzelausstellung überhaupt – jeden der Räume der Münchener Galerie von Heiner Friedrich in einer unterschiedlichen Weise, die den Umfang und die Dimensionen zweier Räume sowie die Unterteilung eines dritten nach bestimmten Maßvorgaben bezeichneten. Dabei bedeutete die Projektion des physischen Raumes auf die vermessenen Wände einen geistigen Akt, der vom Betrachter nachvollzogen werden musste, welcher somit in die Realisierung der Arbeit einbezogen wurde.
Die (Ver)Messungen hatten Bochner zunehmend die Transponierung theoretischer Diskurse in anschauliche bildnerische Praxis angezeigt. Was zunächst Teil seiner Studien zum Raum war, erfährt in Theory of Boundaries und Theory of Painting, beide von 1969-70, durch die Verknüpfung mit Worten in Form von „Sprach-Quotienten“ eine neue Dimension, die auf der Grundlage weniger einfacher Bedingungen die Figur/Grund-Beziehung als entscheidende Funktion der Malerei-Geschichte diskutiert. In diesem Zusammenhang war auch Bochners A Theory of Sculpture (ab 1969) mit ihrer Verknüpfung des Zählens mit skulpturalen Formen in ihrer radikalen Reduzierung höchst originär. Ihre Umsetzung erfolgte in Bodenstücken z.B. mit Steinen und Kreide und stellte sowohl ausgesprochen einfache als auch kompliziertere Varianten vor. Die Demonstrationen von Bochners Theory of Sculpture erfüllen kaum unsere tradierten Erwartungen an eine Skulptur. Vielmehr konzentrieren sie sich auf die Erfahrungen des Betrachters: die „Skulptur“ konstituiert sich in seiner physischen Bewegung wie aus seinem Vorstellungsvermögen.
„Was Bochner meinte, war, dass es keinen Gedanken ohne Sprache gibt und dass es in den bildenden Künsten keine Sprache ohne materielle Umsetzung gibt.“ / „What Bochner meant was that there is no thought without language, and that in the visual arts there is no language without physical embodiement.“ (Richard S. Field, Mel Bochner: Thought Made Visible, in: Mel Bochner: Thought Made Visible 1966-1973, Katalog: Yale University Art Galery, New Haven, 1995, S.41)
Nach jahrelanger intensiven Auseinandersetzung mit den syntaktischen Beziehungen von Sprache und Raum verstärkte sich um 1973 in ihm die Auffassung, dass er seine bis dahin formulierten Ideen soweit ausgebeutet hatte, dass keine Fragen mehr offen waren, bei denen der Betrachter ihm weiter folgen könne.
Über die Untersuchung geometrischer Formen und Formrelationen in den Demonstrationen der Theory of Sculpture gelangte Bochner zu einer Erweiterung des Bezugssystems von Dreieck und Quadrat durch das gleichseitige Fünfeck/Pentagon. Die Einführung dieser Form in sein bildnerisches Denken schaffte eine Verknüpfung mit seinen früheren Werkphasen, die ihm wieder den Zugang zur Malerei eröffnet. In den folgenden Jahren richtete sich seine Arbeit auf die malerische Umsetzung der in Zeichnungen ermittelten Synthesen aus geometrischen Primärformen. Diese Untersuchungen der Beziehung von Formkombinationen und dem von ihnen ausgegrenzten Raum führten zu unvermittelt vielgestaltigen Strukturen, die eine Freiheit innerhalb eines Systems mit wenigen Parametern gestatten. In Verbindungen mit einer leuchtenden Farbigkeit entfalten sie zudem eine überraschende Sinnlichkeit, der Bochner konsequent nachging. Das Problem, dem er sich erneut stellen musste, war die Aufhebung des Objektcharakters des Bildes. Dabei wandte sich Bochner von der Ökonomie der bildnerischen Mittel ab zugunsten eines aufwendigen malerischen Verfahrens, der überkommenen Technik der Fresko-Malerei.
Die beiden Gouachen Untitled (Prussian Blue) (1977) und Untitled (Red Shift) (1979) zeigen beispielhaft Bochners Vorgehensweise, Entwürfe präzise zu gestalten, so dass eine Ausführung als Fresko seinen Vorstellungen gemäß erfolgen konnte. Die Farbe Preußisch Blau (Prussian Blue) besaß für Bochner immer eine besondere Anziehungskraft, die von der kühlen Dunkelheit des Tons ausging, der geringere emotionale Wirkkraft ausübt. Er bildet das Zentrum der abstrakten Komposition. Diese besteht aus drei farblich unterschiedenen Teilformen, die aus drei Fünfecken entwickelt werden, an die dreieckige und quadratische Elemente angedockt werden. Durch die eingefügten Streifenelemente wird das Gebilde zugleich verunklärt und ausbalanciert. Gegenüber dieser synthetisch ausgerichteten Syntax zeigt (Red Shift) einen analytischen Aufbau, in dem die einzelnen Glieder im Wesentlichen zu einer Struktur aneinandergefügt erschienen. Beiden Gebilden gemein ist, dass die negativ ausgegrenzten Formen des Grundes (bzw. der Wand) als integraler Bestandteil der Komposition aufgefasst wird.
Beide Blätter verweisen auf ausgeführte Wandzeichnungen. (Prussian Blue) erscheint dabei als Vorbild für Aliquant (Double Face) von 1977, (Red Shift) bezieht sich auf Secant von 1978-79. In beiden Arbeiten zeigen sich allerdings Abweichungen, die in Aliquant mit seiner veränderten Farbgestalt stärker wirken als das Auslassen eines kleinen Dreiecks in der Formsyntax von Secant. Auch wenn die Blätter offensichtlich erst nach den vorangegangenen Wandzeichnungen entstanden sind, belegen sie dennoch beispielhaft, dass die Berücksichtigung ortspezifischer Aspekte die Entscheidungsprozesse der Ausführung wesentlich beeinflusst.
Bochners Werkentwicklung von den konzeptuellen Arbeiten der späten 60er und frühen 70er Jahre über die Wandmalereien und Revisionen der Tafelbilder der 80er und 90er Jahre bis zu den malerischen Konzepten der Gegenwart folgt einem stringenten Pfad, dessen experimenteller Verlauf immer im Bezugsfeld der früh eingeschlagenen Denkweise und Zielrichtung zu betrachten ist.
Wie sich das konkret auswirkt, wird in einer Serie von Aquatintaradierungen anschaulich. Cubes entstanden 1989, variieren das Thema einer Spirale aus Würfeln, die vom Bildzentrum aus über seine Grenzen hinauswächst. Bochner greift hier verschiedene Gegenstände auf, die an frühe Werkphasen zurückverweisen. Die Auseinandersetzung mit der natürliche Wachstumsvorgänge beschreibenden Fibonacci-Folge und die Würfel als neutral flexible Elemente zur Ausformung skulpturaler Konzepte klingen in diesen Blättern an. Gleichzeitig demonstriert der expressive Duktus der Variationen seine malerische Praxis, wie er sie seit seiner Rückbesinnung auf das Medium ab Mitte der 1970er Jahre ausgebildet hat.
Auch Bochners jüngste Werk-Reihen haben viel mit den relativen Verhältnissen von Sehen und Verstehen zu tun. Die Malerei mit ihren formalen Entscheidungen bildet darin einerseits eine anschauliche Analogie zum Verständnis der Beziehung von Sprache zu Zeit und Raum als grundsätzliches Thema seines Werks. Zum anderen stellt der Künstler sie den durch die Beschleunigung digitaler Kommunikation sich fast täglich vollziehenden Sprachveränderungen gegenüber. Während Bochners frühe Konzepte die Malerei als Medium seiner Arbeit ausklammerten und nur am Abbau der Fassade interessiert waren, die zwischen Sehen und Verstehen, Form und Bedeutung errichtet ist, besitzen die zeitgenössischen Gemälde einen erzählerischen Hintergrund, in dem Malerei und Sprache jenseits wörtlicher Bedeutung eine Verbindung suchen. „Indem sie sowohl experimentell als auch sprachlich ist“, sagt Bochner, „lässt die Farbe den Raum zwischen Sehen und Lesen kollabieren. Es entsteht aber auch eine zusätzliche Bedeutung, eine visuelle Bedeutung, die die Aufzehrung der Erzählung überlebt.“ / „By being both experimental and linguistic, the color collapses the space between seeing and reading. But it also creates a surplus meaning, a visual meaning one that survives the consumption of the narrative.” (Mel Bochner in Conversation with James Meyer, in: Mel Bochner, Language 1966–2006, Katalog: The Art Institute of Chicago, New Haven CT / London: Yale University Press, 2007, p. 141.)
Die Bilder der Thesaurus-Reihe, die eine wesentliche Konstante in seinem Werk bilden, thematisieren die Aufzählung synonymer Bedeutungen eines Wortes. Die Bildgestalt ist durch die festgelegte Anzahl der Zeilen und Buchstaben vorbestimmt. Auf farbigem Grund werden aus freier Hand die Buchstaben in verschiedenen Farben aufgetragen, deren Töne während des Malprozesses gewählt werden. Bochner zitiert nicht bloß die Worte und Wendungen aus dem Wörterbuch, sondern redigiert ihre Reihenfolge nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten. Zum einen ist die Zahl der Buchstaben eines Wortes mitentscheidend für seine Wahl und Platzierung. Zum anderen vollzieht er eine Verschiebung des sprachlichen Milieus, im Zuge derer die hochsprachlichen Synonyme schrittweise in umgangssprachliche Wendungen übergehen. Dadurch beinhalten die Bilder eine ausgeklügelte narrative Struktur.
Die Balance zwischen malerischer und sprachlicher Lesart wird in der Blah, Blah-Serie noch weiter in Richtung Malerei verschoben. Die Bilder kennzeichnet eine formale Exegese unterschiedlicher Schriftführungen mit teils expressiven Zügen und farblichen Diversifikationen. Sie erscheinen als radikale Zerrbilder des Redeflusses, der in unserer Sprachatmosphäre, in der die Kommunikation als Selbstzweck gefeiert wird, zum weißen Rauschen anschwillt und verebbt.
Ulrich Wilmes