Fred Sandback

Frühjahr 2008

„Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen beginne ich da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt beim Punkt, der sich in Bewegung setzt.
Kurz nach dem Ansetzen des Stiftes oder was es sonst Spitzes ist entsteht eine Linie (Je freier sie sich zunächst ergeht, desto klarer ihre bewegliche Natur.)
Setze ich aber eine Linie an, ein kantiges Schwärz- oder Färbmittel, so entsteht eine Fläche (zunächst und bei sehr beschränkter Ungebundenheit des sich Ergehens)
Hätten wir eine Materie, um Flächen mit ähnlicher Wirkung fortzuschieben, so könnten wir eine ideelle Plastik in den Raum schreiben. Aber das ist leider schon Utopie.“ Paul Klee: Beiträge zur bildnerischen Formlehre, 1921/22

Pedestrian Space
Staunen über das Alltägliche

Um 1968 prägen Fred Sandback und ein Künstlerfreund Dan Edge den Begriff „pedestrian space“: In diesem Begriff werden verschiedene Ebenen angesprochen. Zum einen steckt darin der Fuß, zu Fuß gehen, der Fußgänger-Raum, dass heißt es benennt einen Raum, der begehbar ist, der nicht abgehoben ist, und er beinhaltet den Ausdruck des Gewöhnlichen, des Nicht-Spektakulären, des Prosaischen. 1986 schreibt Fred Sandback: „Dieser prosaische Raum war nüchtern, ausgewogen und alltäglich. Die Idee war, die Arbeiten genau dort, neben allen anderen Dingen der Welt, aufzustellen, nicht auf einen räumlichen Sockel. Der Begriff schloss auch die Idee der Nützlichkeit ein, dass eine Skulptur dazu da sei, aktiv in Anspruch genommen zu werden, und er enthielt den utopischen Hoffnungsschimmer, dass Kunst und Leben dereinst glücklich zusammenleben.“1

1968 ist Fred Sandback, 25-jährig, in seinem zweiten Jahr in Yale an der School of Art and Architecture, nachdem er bereits 1962 – 66 ein Grundstudium in Philosophie an der Yale University abgeschlossen hat. Es ist eine bewegte Zeit, politisch, gesellschaftlich als auch künstlerisch: Der Abstrakte Expressionismus, Action Painting, die Pop Art, Minimalismus sind virulent und in Yale ist Josef Albers' künstlerische Lehre weiterhin präsent2. Fred Sandback studiert bei Naum Gabo3 Bildhauerei, lernt die Ideen des russischen Konstruktivismus kennen, besucht Seminare bei George Sugarman, einem Künstler, der sich vor allem mit der Frage des Sockels und der Farbe in Skulpturen beschäftigte, und bei Donald Judd und Robert Morris, die 1967 dort unterrichteten. Die Begegnung mit diesen beiden betrachtet er rückblickend als besonders bedeutsam4. Es wird diskutiert, diskutiert über Wahrnehmung, Gesellschaft, das Individuum, über Raum, über Wirklichkeit, über Kunst und ihr Verhältnis zum Betrachter, etc.; Fred Sandbacks Schriften und Interviews zeugen von den für ihn relevanten Diskursen, zeugen von seinem philosophisch fundierten Geist. Sein gesamtes Schaffen ist durchdrungen von der Suche nach Anschaulichkeit, nach Gegenwärtigkeit von Ideen und Geistigkeit. Er will sich von allem „überschüssigen Gepäck“5 befreien, will Skulpturen ohne Inneres schaffen, die doch eine Ganzheit verkörpern. Es geht ihm um die Öffnung der Situation.6

Sein Weg bereits als Student ist radikal: Linie, Raum, Leere und Grenzen bilden seine Ausgangspunkte. Ein transparenter Plexiglaskubus, den eine diagonale Linie aus Metall durchzieht, bezeugt bereits 1966 seine Konzentration auf diese substantiellen Ansätze im skulpturalen Ausdruck. 1967 entstehen seine ersten Werke aus elastischen Gummischnüren und aus dünnem Metall bzw. aus der Kombination von beiden Materialien, die die Ecken eines Raumes, geometrische Flächen oder Volumen umzeichnen. Mit diesen minimalen und einfachen Mitteln schafft er voluminöse und luftige Skulpturen zugleich.

„Untitled (Red Floor Piece)“, die erste Konstruktion dieser Art, liegt mit dünner roter Linie die Form eines Balken umzeichnend am Boden (siehe unten Abbildung 16. Konstruktions-Zeichnung). In „Untitled“, 1967 (s. u.) spannt sich zwischen Boden und Wand filigran und präzis das Viertel eines Zylinders. In einer Gruppe von Werken aus dem Jahr 1968, verschieden in ihrer Farbigkeit, in ihrer Größe und im Rhythmus ihrer Abstände, sind es jeweils vier Quader, die als Volumen manifest werden (s. u. “Untitled”, 1968/1983). Drei längliche, blaue Kuben füllen in „Untitled (Vertical Corner Piece)” von 1968 (s. u.) den Winkel zwischen Wand und Wand, betonen die Vertikale
und verweisen auf die Ecke.7 „Ich konnte einen bestimmten Raum oder Körper in seiner ganzen Stofflichkeit fassbar machen, ohne ihn einzunehmen oder zu verdecken.“8

Diese Skulpturen umfassen Raum, rhythmisieren und gliedern ihn. Sie lenken überhaupt erst das Augenmerk auf die Masse des Raums. Doch was formen, was schneiden diese Skulpturen aus? Unterscheidet sich der Raum innerhalb der geometrischen Formen von dem Raum außerhalb? Was befindet sich innerhalb der Linien und was außerhalb?

In diesen ersten grundlegenden Arbeiten scheint es, als ob Raum innerhalb der skulptural gesetzten Grenzen verdichtet wird. Leere wird fassbar. Ein Paradox, denn die Leere formt zugleich ein präsentes körperliches Gegenüber: Körperlos – Körperhaft. Laotse sieht das wahrhaft Wesentliche im Vakuum, in der Leere des Raums. Die Realität eines Zimmers zum Beispiel sei im leeren Raum zu finden, der von Dach und Wänden umschlossen ist, und nicht in dem Dach und den Wänden selbst.9 In einem Interview äußert Fred Sandback: „Es gibt große ‚leere' Räume zwischen den Linien. Sie sind nicht weniger real oder materiell als die Linien selbst.“10

„Twenty-Two Constructions from 1967“ (s. u.), eine Mappe mit 22 Umkehrlithographien aus dem Jahr 1986, umfasst Fred Sandbacks erste Skulpturen. Er greift auf sie zurück, immer wieder, stellt sie zusammen gleich einem Index. Einem Index, welcher das Grundvokabular seines Werkes beinhaltet. Im Frühwerk ist in nuce bereits all das enthalten, was er dann über die Jahre ausfaltet und, nur scheinbar paradoxerweise, zugleich kontinuierlich verdichtet. Die zeichnerische Setzung in diesen Blättern beinhaltet in komplexer Form das Verhältnis von Raum zu Fläche. Raum ist in diesen Darstellungen auf seine elementarsten Strukturen reduziert. Einzig drei Linien verweisen im Großteil der Blätter auf den Eckpunkt, den Ursprung eines Raumes. Ansonsten setzen die Ränder des Papiers die Grenzen des Flächenraums und zugleich weisen die Arbeiten weit über diese Grenzen hinaus.

Keine illusionistische Perspektive, kein Sockel, nichts Spektakuläres stellt sich vor die unmittelbare Anschauung. Die Darstellung von Raum ist auf ein Minimum beschränkt. Alles überschüssige Gepäck, alle überflüssigen Schlacken der Materie11 und der Stofflichkeit sind in diesen Darstellungen aufgehoben und gerade mit dieser Beschränkung entsteht Verdichtung, öffnet sich eine unendliche Sphäre auf der Fläche. Ein Ort, aber wo? Ist es ein irdischer oder überirdischer Ort? Einzig in der Endlichkeit ist Unendlichkeit vorstellbar und erlebbar. Es sind Orte, die neue Dimensionen eröffnen, die die Wahrnehmung weit über unsere Sehgewohnheiten hinausführen.

Als Bildhauer, dessen Ausgangspunkt der Raum ist, durchwandert er den konkreten Raum, lernt ihn kennen, nimmt einen Dialog auf. Dabei geht es nie um das Vermessen von Raum, vielmehr um das Erfahren, Erkennen. Wenn Fred Sandback Ausstellungen realisierte, befand er sich lange Zeit zuerst im Raum. Erst dann entstanden seine Formulierungen. Dabei waren nicht die Grenzen sein Ausgangspunkt, sondern die Mitte: „Eine Möglichkeit zu handeln besteht darin, eine Grenze zu definieren und sich auf den durch sie implizierten Mittelpunkt zuzubewegen. Ich mache das Gegenteil, ich definiere einen Mittelpunkt und bewege mich nach außen auf die Grenzen zu.“12

Die frühen Werke beinhalten noch eine Referenz an ein geschlossenes Volumen; Fred Sandback sucht diesen Objektcharakter mehr und mehr zu vermindern. So kommt es 1973 zu einem weiteren radikalen Schritt. Er gibt die Materialien, elastische Gummischnüre und Metall, die noch Substanz und eine haptisch-fassbare Ästhetik besitzen, auf und beginnt nunmehr einzig Acrylgarn für seine Konstruktionen einzusetzen. Intensiv verfolgt er die Idee, „die Arbeiten genau dort, neben allen anderen Dingen der Welt aufzustellen, ...“, weiter. Er sucht eine Schnittstelle zwischen sich, der Umgebung und den betrachtenden Fußgängern. Es entstehen Skulpturen aus dünnen Linien, um die der Betrachter herumgehen kann, die er durchschreiten kann, denen er unmittelbar gegenüber steht, die die Aktivität des Betrachters und ihre Benützung regelrecht herausfordern. Mit der Bewegung wird die Allansichtigkeit, die Körperlichkeit des Plastischen erfassbar. Seine Konstruktionen stehen im konkreten Raum neben allen anderen Dingen. Dabei wird die Relevanz der anderen Dinge im Raum augenfällig, überhaupt erst sichtbar, alles fällt auf und zugleich verlieren die Dinge mit Fred Sandbacks bescheidenen Setzungen ihre Auffälligkeit. Es entsteht eine Konzentration mit einer Ambivalenz von Innenraum und Außenraum, indem Leben und Kunst im Moment des Gegenwärtig-Seins ineinander greifen, ein „pedestrian space“. „Es bezog sich auf die Idee, den Sockel verlassen zu wollen, die Leinwände loszuwerden. Und ich denke, es hatte mit einer Bewunderung für andere Kulturen zu tun, in denen Kunst eher in der Mitte der Dinge als in der Peripherie stattfindet. Das schien überhaupt eine gute Beschreibung zu sein. Ich wollte im Mittelpunkt sein, wovon auch immer. Ob es nun die Kultur war oder das Leben selbst. Ich wollte es nicht von der Seite her betrachten. Ich wollte mitten drin sein.“13
Chistiane Meyer-Stoll

1 Fred Sandback: „Anmerkungen zu meiner Skulptur 1966-86“, in: Fred Sandback, Vaduz, Ostfildern, 2006 (Im Folgenden zitiert als: Sandback 2006), S.122-124, hier S. 124.
2 Fred Sandback äußert: „Na ja, Gabo war zusammen mit Albers eine der beiden Größen der damaligen zeitgenössischen Kunst an der Akademie.“, aus: „Befragung durch Linien: Interview von Joan Simon“, in: Sandback 2006, S. 143-151, hier S. 143.
3 Wenn auch Fred Sandback sich immer wieder sehr kritisch über das Werk von Naum Gabo äussert, so ist doch deutlich auszumachen, dass eine intensive Auseinandersetzung stattgefunden hat, und dass das Weitertreiben eines Skulpturbegriffs auf Grundlagen, die unter anderem im Werk von Naum Gabo und damit auch implizit der russischen Konstruktivisten vorhanden war, aufbaute.
4 Fred Sandback äußert: „Judd war einer davon, Morris ein weiterer. Ich glaube diese beiden waren die zwei Wichtigsten, die mir auf dem Weg begegneten.“, Simon 1996, in: Sandback 2006, S. 150
5 Fred Sandback: „Sandback: Wo ist die Skulptur“, in: Sandback 2006, S. 131-134, hier S. 131.
6 Siehe hierzu: „Ein Interview: Fred Sandback und Stephen Prokopoff“, in: Sandback 2006, S. 113-118, hier S. 114.
7 Die Ecke ist von besonderer Bedeutung und nimmt im Werk von Fred Sandback auch eine gewichtige Stelle ein. Bereits Malewitch bezieht sich 1915 in Petrograd in der Ausstellung „0,10“ mit seinem Schwarzen Quadrat auf weißen Grund, welches er quer über eine Ecke des Raums platzierte, auf den traditionellen Ort der russischen Ikonen, vergleichbar mit dem unsrigen Herrgottseck. Darüber hinaus besitzt die Ecke durch den Schnittpunkt, an welchem sich Länge Breite Höhe treffen, und der auch mit Nullpunkt bzw. Ursprung bezeichnet wird, einen besonders bedeutungsvollen und symbolisch aufgeladenen Charakter.
8 „Anmerkungen zu meiner Skulptur 1966-86“, in: Sandback 2006, S. 122.
9 Siehe dazu: Laotse: „Tao te king. Texte und Kommentar von Richard Wilhlem“, München 1978, S. 51. Erster Teil: Der Sinn, Nr. 11.
10 Prokopoff 1985, in: Sandback 2006, S. 113.
11 Die Linien entstehen durch das Negativ, Umkehrlithographie. Das Fortnehmen für die Bildung von Form spielt im Werk von Fred Sandback, immer wieder eine Rolle, und wird tragend in seinen ab 1995 entstehenden Reliefs. Das Arbeiten im Negativ ist zugleich eine klassische Arbeitsweise der Plastik.
12 Fred Sandback: „Ohne Titel “, 1975, in: Sandback 2006, S. 97-99, hier S. 98.
13 Simon 1996, in: Sandback 2006, S. 151.